Kritik der praktischen Vernunft

Ist Kollektivität als szenische Praxis möglich? Die gruppe tag arbeitet inzwischen über 15 Jahren daran Möglichkeiten des kollektiven bzw. agilen Zusammenarbeitens auszuloten. Einige der dabei aufgetretenen Ansätze und Widersprüche wollen wir hier in Bildern, Texten und Videos rückblickend zusammentragen, ganz im Sinne einer unserer ersten Try Outs unter dem Titel: "Vorwärts, aber Rückwärts wollen wir!"
Theater machen verstehen wir weniger als die Wiedergabe bestimmter Regie- oder Schauspielstile, sondern als einen kollektiven Prozess der künstlerischen Auseinandersetzung mit einem Thema, der sich bis zu den Zuschauer:innen fortsetzen kann. Wir haben neulich in der Zeitschrift „Spiel und Bühne“ die  Überlegung formuliert, dass kollektive Arbeitsweisen als bestimmte Form von Dialog beschrieben werden können. Deshalb wollen wir diese Überlegungen in Bezug auf unsere  kollektive Arbeitsweise auch hier teilen. Aber beginnen wir mit einem Beitrag von einem unserer Teilnehmer. Wir besuchten ein Wohnprojekt in Wurzen, das kollektiv organsiert ist: 

In reality does dialogue exist, ever?

  Kollektivität in unserer Theaterarbeit entspringt häufig einer Herausforderung, die wir uns oder dem Publikum stellen. Am Anfang einer Stückentwicklungen steht die Konzeption eines Formats, das wir aus dem Interesse an einem Thema oder einer Fragestellung heraus entfalten. Am besten lässt sich das an unserer Inszenierung Die feinen Unterschiede demonstrieren. In dem Publikumsexperiment repräsentierten Darsteller:innen und Zuschauer:innen  auf der Bühne ihre sozialen und kulturellen Kapitalien. Zu Beginn dieser Produktion stellten wir die Frage: Was kann uns die Klassenanalyse von Pierre Bourdieu aus den 70er Jahren mit dem gleichnamigen Titel heute noch sagen? Ausgehend von dieser Fragestellung entwickelten wir dann eine Art Versuchsanordnung, in der wir uns gegenseitig herausforderten. Den Impuls dafür lieferte uns ein zunächst befremdliches Detail in dem dicken Wälzer von Bourdieu. Dort fand sich ein tabellarisches Ordnungsschema, das versuchte, die Differenzierung gesellschaftlicher Klassen in Beziehung zu ihren Geschmacksurteilen zu zeigen. Dieses Koordinatensystem übertrugen wir dann als Umriss auf den Bühnenboden, um uns innerhalb der markierten Felder selbst zu positionieren. Wo würden wir uns aufstellen? Im Feld der bürgerlichen Mitte oder im Feld der prekären Unterschicht? Und warum haben wir uns so und nicht anders entschieden? Wir spielten also eine kleine Soziometrie durch und erzählten uns Geschichten wie und warum wir uns irgendwo hinstellten. So begannen wir einen Dialog untereinander und entwickelten ein Format, das es uns ermöglichte, allen persönlichen Perspektiven auf das Thema Raum zu geben und auch unterschiedliche Sichtweisen und Verständnisse zwischen uns herauszufordern. Gleichzeitig ergab sich bereits eine spezifische Schauanordnung, die für das entstehende Bühnenstück als eine Art dramaturgisches Grundgerüst bereitstand. Im nächsten Schritt öffneten wir diesen internen Dialog für Gäste von außen. Wir organisierten eine Reihe offener Workshops, in denen wir Menschen einluden, sich ebenfalls dieser performativen Soziometrie zu unterziehen. So versammelten wir im Laufe des Prozesses ein Ensemble von Personen, deren feine Unterschiede untereinander erst im Dialog auf der Bühne deutlich wurde. Die Dramaturgie des Stückes sollte dann die verschiedenen Konstellationen dieses Dialogs bilden. In der Aufführung am Ende der Stückentwicklung öffneten wir diese Soziometrie für das Publikum. Am Ende eines langen Prozesses stand also eine Art Publikumsexperiment, in dem alle auf der Bühne – Performer:innen wie Publikum – sich auf einem Spielfeld positionierten und dadurch miteinander in Dialog traten. Das wurde möglich, weil unser Stück offen blieb für Inhalte, die sich erst während der Aufführung realisierten. So, wie es in einem Dialog nicht möglich ist, ein endgültiges Ziel zu definieren oder einem bestimmten Gedankengang im Voraus zu folgen, so werden auch unsere künstlerischen Konzepte und Praktiken auf diese Weise ausgearbeitet. Auch wenn es eine Struktur gibt, die uns den Weg weist, ist sie immer lückenhaft und wird erst in der Begegnung mit dem Publikum vervollständigt. Dies erfordert von der Gruppe ein ständiges Zuhören, denn wir wollen sicherstellen, dass die Beteiligung des Publikums einen Einfluss auf den Verlauf des Abends haben wird, der sich in jeder Vorstellung auf einzigartige Weise entfalten soll. Szenenwechsel: Welche Erfahrungen hat unser Kollege mit kollektiven Arbeiten?
In unserem Stück Wir sind gleich wieder da haben wir uns, ähnlich wie es Kay beschreibt, auch zunächst eine Herausforderung gesucht.  Aufgabe war es einen Dialog mit unserem Publikum aufzubauen, ohne im selben Raum anwesend zu sein. Zumindest nicht am selben physischen Ort. Während wir, die Darsteller:innen, den öffentlichen Raum mit der Kamera erkundeten, verfolgten die Zuschauer:innen im Theater die dabei aufgenommenen Begegnungen mit Passant:innen über die Leinwand bzw. ihren Handybildschirm. Der Raum, der uns mit dem Publikum verband, war ein virtueller Raum. Über einen Handy-Messenger entwickelten wir die Show peu à peu miteinander. Die Zuschauer:innen waren eingeladen, Anregungen zur Route der Darsteller:innen auf der Straße zu geben, sich gegenseitig Fragen zu stellen und zu beantworten sowie die Schauanordnung im Theatersaal nach ihrem Gusto zu gestalten. Anders gesagt: die leere Bühne auf die Art und Weise zu besetzen, die ihnen am sinnvollsten erschien. Wir starteten mit der Aufforderung: „Macht es euch bequem! Das Theater gehört heute ganz euch.“ Und unser Angebot wurde schneller als erwartet angenommen, ohne dass wir weitere Impulse geben mussten. Das Publikum eignete sich den Bühnenraum immer weiter an und beeinflusste mit den Reaktionen auf unsere Videos auf der Leinwand die Handlung des Stückes. Zurück ins Auto: Das macht es vielleicht nochmal anschaulicher, was wir mit der Herausforderung suchen. Es geht letzlich darum einen Dialog mit uns und dem Publikum auf der Bühne zu realisieren. Der Theatermacher Augusto Boal (1931 – 2009), ein brasilianischer Regisseur, Theaterautor und Theatertheoretiker, sah in der Schaffung von Dialogen einen zentralen Punkt seiner künstlerischen Praxis. Er formulierte in diesem Zusammenhang einige Fragen, die die Herausforderung beschreiben, die sich mit diesem Prozess verbinden: “In reality does dialogue exist, ever? Or is the contrary the case – that what we think is dialogue never actually goes beyond parallel or overlapping monologues? […] Could it be that we merely speak and cease speaking, intermittently, rather than speaking and listening?” Boal wirft die Frage auf, wie oft unsere Gespräche tatsächlich zu einem Austausch führen. An dieser Frage arbeitet die gruppe tag auch: unsere Begegnungen sowohl mit den Zuschauer:innen im Theater als auch mit den Passant:innen, mit denen wir im öffentlichen Raum in Dialog treten, zu einem, wenn auch nur kurzen, Austausch von Erfahrungen und Kompetenzen zu machen. Immer wenn uns das gelingt, gelingt auch unser Dialog auf der Bühne. Aber was ist wenn wir im Dialog keine Einigung finden? Hier eine Idee aus Wurzen: Und vielleicht als kleines Fazit ein letzter Blick ins Auto:  

Danke an Katja, Kay, Martin und Doug

Vielen Dank auch dem Fonds Soziokultur und dem Programm Profil Soziokultur

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