Der unwissende Lehrmeister

"Projizierte Bilder können sich zu den lebendigen Körpern gesellen oder sie ersetzen"

Das Theater ist der Ort, an dem mit allen lebendigen Mitteln aufgewartet wird. Was passiert, wenn wir dieses Feld einer Maschine überlassen? Die Rede vom posthumanen Theater war in der letzten Dekade sehr präsent. An der Berliner Volksbühne inszenierte Susann Kennedy eine bunte Über-Künstlichkeit mit Schauspielern, die sich wie Puppen durch das Bühnenbild bewegten und nur auf Befehl Bewegungen und Emotionen zeigten. Der Regisseur Stefan Kaeggi vom freien Regiekollektiv Rimini Protokoll ging an den Münchner Kammerspielen noch einen Schritt weiter und stellte eine Roboter-Version des Schauspielers Thomas Melle auf die Bühne. Der Android, der Melle aus der Distanz des Zuschauerraums täuschend ähnlich sah, stellte wie Kennedy die Frage, wie viel Simulation „des Menschlichen“ nötig sei, um den Roboter als Menschen zu akzeptieren. Die vielen Inszenierungen, die es mittlerweile auf digitalen Plattformen gibt, bei denen die Darsteller als Avatare digital erscheinen, tun ihr Übriges. Der Mensch auf der Bühne wird zunehmend als “Übermarionette” imaginiert, wie es der Theateravantgardist Edward Gordon Craig bereits Ende des 19. Jahrhunderts forderte. Craig wollte damit das Theater zu einer profilscharfen Kunstform machen, die nur dort erreicht werden kann, wo der Darsteller so wenig wie möglich reinredet.  Heute wird diese Utopie oder Dystopie – je nach Blickwinkel – durch Big Data noch realistischer. Das verändert nicht nur den Bühnenraum, in der der Mensch auch ohne Big Data längst serienmäßig durch Mikrofone verstärkt oder durch Kameras vergrößert wird.   Wir wollen diesen Menschen nüchtern auf der Bühne ausstellen und erkunden, was posthumanes Theater in Zeiten von ChatGPT bedeuten. Die Erweiterung des Menschen auf der Bühne oder das Zeitalter seiner Krise….? In anderen gesellschaftlichen Bereichen hat derweil der einfach zu bedienende Chat längst zu einer Krise geführt. Spätestens als die Stadt New York als erste das KI Tool ChatGPT zur Nutzung in der Schule untersagte, rückten die Möglichkeiten die das Tool bieten und die Herausforderung die es bereithält in eine breitere Öffentlichkeit. Mit ChatGPT in der Version 3.0. war es nun mit einfachen Klicks möglich Abireife Texte von einem Algorithmus formulieren zu lassen. Das stellte die klassische Leistungsmessung in Schule und Hochschule in Frage. Inzwischen gehen viele Lehrende einen anderen Weg als der Staat New York, schaffen die schriftliche Hausarbeit ab und versuchen, das Tool für ihren Unterricht produktiv zu machen. Darüber hinaus soll auf Grundlage dieser  Large Language Modelle digitale Lernbegleiter gebaut werden, die in Zukunft eine weitere große  Krise lösen sollen: den Lehrer:innenmangel.  Das aber bedeutet in vielen Fällen, Schule und Unterricht völlig neu zu denken. Das Bildungssystem steht also wie das Theater vor einer Umbruchsituation, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist. Der digitale Lernbegleiter könnte die Schule insgesamt obsolet machen genauso wie längst schon das Handy der große Lehrmeister der Schüler:innen ist. Nur lassen wir das Schauspiel der Lehrkraft so weiterlaufen wie eh und jeh. Ein Mensch am Katheder und 30 schauen ihm zu. Wir tun einfach so, als ob nichts gewesen wäre. Ähnlich hat es auch der Kunsttheoretiker Jacque Ranciere für das Theater konstatiert:  „Projizierte Bilder können sich zu den lebendigen Körpern gesellen oder sie ersetzen. Aber solange die Zuschauer im Theaterraum versammelt sind, tut man so, als ob das lebendige und gemeinschaftliche Wesen des Theaters intakt wäre und als ob man die Frage vermeiden könnte: Was genau geht vor bei den Theaterzuschauern, was nicht woanders stattfinden könnte?” Unser Vorschlag: Fragen wir doch mal die Lehrer:innen….

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